„Die Bande zwischen Eltern und Kindern, die infolge einer Gametenspende geboren werden, können sich ganz normal entwickeln“

Veröffentlicht: 22 März 2016|Aktualisiert: 8 Juni 2022|Über assistierte Reproduktion.|

Der Psychiater und Psychoanalytiker Serge Tisseron, Autor des illustrierten Buches Das Geheimnis der Babysamen, bespricht die Schwierigkeiten, die Eltern, die den Weg der assistierten Reproduktion einschlagen, vorfinden.

Inwiefern wird eine Paarbeziehung im Laufe eines Vorgangs der assistierten Reproduktion „auf die Probe“ gestellt?

Ein Vorgang der assistierten Reproduktion ist häufig ein Hindernislauf: Nur in Ausnahmefällen klappt es beim ersten Anlauf und manchmal wird aus Hoffnung Enttäuschung. Deshalb kann es vorkommen, dass ein Paar, das beim ersten Versuch fest zusammenhält, am Ende gegenläufiger Meinung in Bezug auf die richtige Einstellung ist. Einer der beiden Partner hat das Gefühl, dass man lieber das Handtuch werfen sollte, und der andere möchte es einfach solange versuchen, bis es klappt.

Können sich in diesem Kontext die Bande zwischen Eltern und Kindern, die infolge einer Gametenspende zur Welt kommen, richtig entwickeln?

Die Eltern sollten ganz besonders betonen, wie groß ihr Wunsch war, gerade dieses Kind zu bekommen. Einem Kind kann man gar nicht oft genug sagen, wie sehr man es sich gewünscht hat.

Ja, sie können sich absolut normal entwickeln. Das ist in den allermeisten Fällen der Fall, es sei denn, die Eltern beschließen, dem Kind Informationen über seine Herkunft vorzuenthalten, da Geheimnisse dieser Art Menschen voneinander entfernen. Da Spenden anonym erfolgen, haben die Eltern keine Angst, dass eines Tages plötzlich ein/e Fremde/r auftaucht, weil ihr Kind versucht hat, ihn/sie aufzuspüren. Somit haben sie in dieser Hinsicht nichts zu befürchten. Auch wenn ein Kind die Möglichkeit hat, im Erwachsenenalter seine biologischen Erzeuger kennenzulernen, so wird das nie die Bedeutung der Eltern, die es großgezogen haben, mindern. Doch gerade weil Spenden anonym erfolgen, sind manche Eltern versucht, nicht nur die Identität des Spenders/der Spenderin geheim zu halten, sondern auch die Art und Weise, wie das Kind gezeugt wurde. Ebenso wie sie selbst nichts über den Spender/die Spenderin wissen, beschließen sie, auch ihrem Kind nichts über die Umstände, unter denen es gezeugt wurde, zu erzählen.

Warum beschließen Ihrer Meinung nach einige Paare, nicht mit ihren Verwandten über ihren Vorgang der assistierten Reproduktion zu sprechen?

Auch heutzutage fällt es vielen Eltern noch schwer zu akzeptieren, dass Elternschaft ein komplexer Vorgang ist, bei dem mehrere Komponenten zum Tragen kommen: die der Biologie, der Erziehung und der Namensgebung, die mit der Weitergabe eines Nachnamens zu tun hat. Im traditionellen Familienschema sind alle diese Komponenten ausschließlich und untrennbar mit den beiden Elternteilen verbunden. Im Falle assistierter Reproduktion mit Gametenspende wiederum, wird die Tatsache, nur eines von mehreren Elementen zu sein, die die Geburt des Kindes beeinflussen, manchmal als Mangel, oder sogar als Schamgefühl, erlebt. Alle Eltern träumen davon, „vollwertige“ Eltern zu sein, d.h. Eltern, die gleichzeitig ihre Gene, ihre erzieherischen Werte und ihre(n) Nachnamen an ihre Kinder weitergeben. Wenn dies nicht der Fall ist, können manche Eltern versucht sein, ihren Verwandten und Freunden und sogar ihrem Kind dies vorzuspiegeln. So verstecken sie sich vor der Realität einer Situation, die sie als schmerzhaft empfinden.

Geben Sie dies auch an ihr Umfeld weiter?

Es gibt natürlich auch Eltern, die gerade deshalb das Geheimnis gegenüber den Menschen in ihrem Umfeld bewahren möchten, weil sie befürchten, dass ihre eigenen Eltern die Tatsache, dass sie auf assistierte Reproduktion zurückgreifen mussten, verurteilen. Infolgedessen lassen sie auch ihr Kind diesbezüglich im Dunkeln, damit es seinen Großeltern nichts verrät. Meiner Ansicht nach ist das jedoch der komplett falsche Weg. Wenn man selbst Vater oder Mutter wird, muss man sich entscheiden, ob man weiter das Kind seiner Eltern oder vielmehr der Vater oder die Mutter der eigenen Kinder sein möchte. Dazu gehört natürlich auch, eine Vertrauensbasis mit ihnen zu schaffen, die nicht gut damit vereinbar ist, ihnen Informationen über ihre Zeugung vorzuenthalten. Glücklicherweise besteht immer die Möglichkeit, mit seinem Kind zu sprechen – auch dann, wenn man ihm gewisse Dinge eine Zeit lang vorenthalten hat. Man sollte ihm in diesem Fall auch klar sagen, warum man nicht schon früher mit ihm gesprochen hat und dass man nicht wusste, wie man das Thema angehen sollte. Gerade für Eltern, die sich in dieser Situation befinden, habe ich Das Geheimnis der Babysamen geschrieben! Die Eltern sollten ganz besonders betonen, wie groß ihr Wunsch war, gerade dieses Kind zu bekommen. Einem Kind kann man gar nicht oft genug sagen, wie sehr man es sich gewünscht hat, und der beste Beweis dafür ist gerade der, dass man sich einem Vorgang der assistierten Reproduktion unterzogen hat, nur um es zu bekommen.

Kann es Konsequenzen für ein Kind haben, wenn man ihm vorenthält, dass man auf assistierte Reproduktion zurückgegriffen hat?

Dem Kind schadet nicht die Tatsache, nicht zu wissen, unter welchen Umständen es gezeugt wurde, sondern herauszufinden, dass es nicht das Recht hat, über einen so wichtigen Teil seiner eigenen Geschichte Bescheid zu wissen.

Mit Geheimnissen um jemandes Abstammung ist es nicht wie mit einem Goldbarren, den man in einem Schweizer Safe deponiert, zu dem sonst niemand einen Schlüssel hat. Für Eltern gibt es nicht die Gewissheit, dass ihr Kind nie die Wahrheit erfahren wird, wenn sie etwas so Wichtiges wie die Umstände, unter denen es gezeugt wurde, vor ihm verbergen. Angesichts der Schwierigkeiten, die mit einem Vorgang der assistierten Reproduktion verbunden sind, vertrauen sich viele Menschen in einer solchen Situation einem engen Freund oder Verwandten an. Diese Vertrauensperson wird jedoch wie jeder, der das Geheimnis eines anderen bewahrt, irgendwann irgendjemandem davon erzählen. Auf diese Art und Weise erfahren viele infolge assistierter Reproduktion geborene Kinder 10 oder 15 Jahre später, wie sie gezeugt wurden, wenn ein Cousin oder eine Cousine in dem Glauben, dass sie bereits davon wissen, darüber spricht.

Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass es Situationen gibt, in denen ein Elternteil glaubt, dass es gut für das Kind wäre, ihm die Wahrheit zu sagen, während der andere davon überzeugt ist, dass ihm dies schaden würde. Derjenige der beiden, der findet, dass man mit dem Kind darüber sprechen sollte, wird dies irgendwann tun und dann wird das Kind unweigerlich die Frage stellen: „Warum habt ihr mir das denn nicht früher erzählt?“ Zu guter Letzt können Spannungen zwischen den Eltern ebenfalls dazu führen, dass einer von beiden eine Bemerkung in die Richtung macht, dass das Kind „ja gar nicht wirklich seines ist“. Ein Kind, das die Erwartungen seiner Eltern nicht erfüllt, läuft Gefahr, irgendwann aus dem Mund eines der Menschen, die es für seine Erzeuger hält, einen rätselhaften Kommentar darüber zu hören, dass man nicht weiß „woher es kommt“ oder dass einer der beiden Elternteile seine Zweifel an „diesem Verfahren“ hatte. Dem Kind schadet nicht die Tatsache, nicht zu wissen, unter welchen Umständen es gezeugt wurde, sondern herauszufinden, dass es nicht das Recht hat, über einen so wichtigen Teil seiner eigenen Geschichte Bescheid zu wissen. Aus diesem Grund ist es, wenn man beschließt, dem Kind die Wahrheit darüber zu erzählen, wie es zur Welt kam, besonders wichtig, dass das Kind so viele Fragen stellen kann, wie es möchte, und dass die Eltern diese voll und ganz beantworten und ihm keinerlei Informationen vorenthalten.

Welchen Rat würden Sie Eltern geben, die noch zweifeln, ob sie mit ihren Kindern über dieses Thema sprechen sollen?

Am besten sollte man damit so bald wie möglich beginnen. In Bezug auf die Herkunft des Kindes kann es z.B. sein, dass einem der beiden Elternteile beim Baden oder beim Windelwechseln die Augenfarbe oder Kopfform des Kindes auffällt, oder aber wie fein oder dicht sein Haar ist. In solchen Fällen sollte man dies mit dem Kind besprechen und z.B. sagen: „Oh! Deine Augen sehen anders aus als die von Mama und Papa, weil wir dich mithilfe der Samen einer anderen Person bekommen haben, aber du bist wunderschön!“ Das Kind kann dies natürlich noch nicht verstehen, aber die Eltern gewöhnen sich so daran, bei solchen Gelegenheiten ein paar einfache Worte zu den besonderen Umständen seiner Geburt an ihr Kind zu richten. So weiß das Kind, wenn es älter wird, bereits darüber Bescheid, dass es nicht das biologische Kind seiner beiden Eltern ist, und kann Fragen stellen, um das besser zu verstehen: Es kann darauf vertrauen, dass seine Eltern bereits sind, seine Fragen zu seiner Herkunft zu beantworten. Da Gametenspenden anonym erfolgen, wird es natürlich wird es immer Fragen geben, die die Eltern nicht beantworten können. Wenn es den Eltern jedoch gelingt, auf der Grundlage dieses Elementes schön ausgeschmückte Geschichten zu erfinden, wird das Kind viele Gelegenheiten haben, sich seine eigenen Geschichten auszudenken, und es wird genau wie alle Kinder seiner Fantasie stets freien Lauf lassen. Es wird sich seine/n biologische/n Mutter/Vater in lebendigen Farben ausmalen und dabei wissen, dass sie oder er immer nur eine Vorstellung sein wird, aber sich gleichzeitig auch immer bewusst sein, dass es aus Liebe und ohne Geheimnisse oder Missverständnisse zur Welt kam. So nimmt es seine Eltern als Grundpfeiler in seinem Leben wahr, die es nicht nur ernähren und erziehen, sondern ihm auch im realen Leben und in der Vorstellung stets zur Seite stehen.

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